Die digitale Barrierefreiheit ist schon einige Jahre gesetzlich geregelt oder zumindest dahingehend vorbereitet. Schritt für Schritt treten diese Gesetze nun in Kraft, in Deutschland zum Beispiel das Barrierefreiheit-Gesetz mit dem Namen Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG). Wie die Gesetze international zusammenhängen, erklären wir Dir in diesem Beitrag. Los geht’s!
Internationale Gesetze
UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)
Die UN-BRK (auch VN-BRK für Vereinte Nationen Behindertenrechtskonvention genannt) ist die weltweit vermutlich wichtigste rechtliche Grundlage für (digitale) Barrierefreiheit und damit für schätzungsweise 650 Millionen Menschen weltweit. Sie wurde 2006 verabschiedet und trat 2009 in Deutschland in Kraft.
Das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ fordert keine Sonderrechte für Menschen mit Behinderung. Es geht um eine „Übersetzung“ der universellen Menschenrechte auf die Bedürfnisse von Behinderten. Ganz nach dem Motto des aktuellen Behindertenbeauftragten Jürgen Dusel: „Demokratie braucht Inklusion“.
Konkret um die digitale Barrierefreiheit geht es in Artikel 9 „Zugänglichkeit“. Der neunte Artikel der UN-BRK fordert Barrierefreiheit für alle Menschen, einschließlich digitaler Technologien („Informations-, Kommunikations- und andere Dienste, einschließlich elektronischer Dienste und Notdienste.“)
Verantwortlich für die Einhaltung der UN-Konvention ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Überwacht wird die Umsetzung von der unabhängigen Monitoring-Stelle Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR).
Marrakesch-Vertrag
Dieser Vertrag wurde 2013 im namensgebenden Marrakesch (Marokko) verabschiedet. Der Vertrag adressiert die existierende Bücherarmut blinder und sehbehinderter Menschen. Der Marrakesch-Vertrag trat 2016 in Kraft, die EU hat ihn im Jahr 2017 umgesetzt. Bis Oktober 2018 hatten die EU-Mitgliedsstaaten Zeit, diesen in nationales Recht umzuwandeln. In Deutschland traten entsprechende Regelungen Ende 2018 und Anfang 2019 in Kraft.
Der Marrakesch-Vertrag möchte Menschen mit Seh- oder Lesebehinderungen den Zugang zu veröffentlichten Werken erleichtern und schafft dafür im internationalen Urheberrecht eine Ausnahme. Denn laut dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) sind 90 Prozent aller veröffentlichten Bücher für Blinde und Sehbehinderte nicht zugänglich. Dank des Vertrags können Bücher in barrierefreien Formaten international getauscht werden, ohne nationales Urheberrecht zu verletzen.
Für uns ist der Marrakesch-Vertrag ein tolles Beispiel für ein internationales Barrierefreiheit-Gesetz. Denn die Bücherarmut unter Sehbehinderten ist für Sehende sicher nur in Ausnahmen ein bekanntes Problem. Der Vertrag hätte damals gerne auch bei uns mehr Aufmerksamkeit bekommen können.
Americans with Disabilities Act (ADA)
Der ADA wurde 1990 verabschiedet und hat große Bedeutung für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in den USA. Es regelt die Antidiskriminierung und den Zugang zu öffentlichen und privaten Angeboten. Besondere Beachtung finden die Titel II und III, die auch den Zugang zu digitalen Technologien beschreiben.
Allerdings wird, soweit meine Recherchen, das Thema digitale Barrierefreiheit und Anwendung des ADA in den USA sehr unterschiedlich gehandhabt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Klage eines blinden Mannes gegen die Supermarktkette Winn-Dixie. In erster Instanz wurde dem Kläger Gil 2017 Recht gegeben. In zweiter Instanz wurde das Urteil 2021 jedoch zum Nachteil des Blinden aufgehoben. Wenn Du Dich für diesen Fall interessiert, suche einfach nach „Gil vs. Winn-Dixie“.
Positiv an dieser Klage war und ist dennoch, dass das Thema digitale Barrierefreiheit stärker in den Fokus rückte. Für in den USA tätige Unternehmen ist das ADA jedenfalls zwingend zu berücksichtigen, um gesetzeskonform im Sinne der digitalen Barrierefreiheit zu agieren.
Europäische Gesetze
Bevor wir in die europäische Gesetzgebung eintauchen, möchte ich Dir das Prinzip „Richtlinie“ erklären.
- Richtlinie: Eine Richtlinie ist ein EU-Rechtsakt, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Weg zur Erfüllung dieses Ziel bleibt den nationalen Regierungen selbst überlassen.
- Norm: Bei einer Norm handelt es sich um eine Liste technischer oder fachlicher Spezifikationen, ähnlich der deutschen DIN. Ziel einer EU-Norm ist ein einheitlicher Standard. Eine Norm ist freiwillig, dient häufig aber als Umsetzungsvorlage für Gesetze.
Richtlinie 1: Web Accessibility Directive (kurz WAD) oder auch EU-Richtlinie 2016/2102
Die EU-Richtlinie 2016/2102 wurde Ende 2016 verabschiedet und verpflichtet seitdem alle öffentlichen Stellen in der Europäischen Union, ihre digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten. In Deutschland wurde diese EU-Richtlinie im Juli 2018 in nationales Recht umgesetzt.
Dies wiederum führte zu Anpassungen anderer deutschen Gesetze und Verordnungen. Betroffen waren unter anderen das Behindertengleichstellungsgesetz, kurz BGG und die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV).
Die EU-Verordnung 2019/882 (auch EAA genannt) verweist auf die EU-Norm EN 301 549.
Die Verpflichtung zur Barrierefreiheit für öffentliche Websites beginnt schließlich im September 2019. Für ältere Websites (veröffentlicht vor September 2018) galt eine Frist bis September 2020. Für mobile Anwendungen gilt die Regelung seit Juni 2021. Da PDF-Dokumente zum Webauftritt einer öffentlichen Stelle gehören, sind auch PDF barrierefrei zu gestalten – mit einigen wenigen Ausnahmen.
Richtlinie 2: European Accessibility Act (kurz EAA) oder auch EU-Richtlinie 2019/882
Die europäische Richtlinie 2019/882 wurde im Sommer 2019 verabschiedet und im Sommer 2021 in deutsches Recht umgewandelt. Inkrafttreten soll und wird die Verordnung am 28. Juni 2025. Besser bekannt ist die EU-Verordnung 2019/882 unter dem englischen Namen European Accessibility Act, abgekürzt mit EAA und auf Deutsch heißt das in etwa europäisches Barrierefreiheit-Gesetz.
Die EU-Verordnung 2019/882 (auch EAA genannt) ist die EU-Vorgabe, welche künftig auch private Anbieter beim Thema digitale Barrierefreiheit in die Pflicht nimmt.
Mit dem EAA geht es auch um die Angleichung verschiedener Barrierefreiheit-Standards innerhalb der EU. Das ist so wichtig wie erfreulich, weil sich die Richtlinie positiv auf die Kosten für Menschen mit Behinderung auswirkt. Wenn sich Behinderte mit unterschiedlichen assistiven Technologien und Standards auseinandersetzen müssen, treibt das die Technologiepreise in die Höhe.
Da die EU-Richtlinie 2019/882 mit folgendem Text auf die EU-Richtlinie 2016/2102 für öffentliche Stellen verweist, lässt sich schlussfolgern: Die Richtlinie für die Privatwirtschaft soll sich an der Richtlinie für die öffentlichen Stellen orientieren.
EAA: Die Barrierefreiheitsanforderungen sollten […] an die Anforderungen der WAD (öffentliche Stellen) angeglichen werden
Europäische Norm (EN) 301 549
Die EN 301 549 Version 3.2.1 ist seit Februar 2022 gültig und im Hinblick auf ein Barrierefreiheit-Gesetz das Maß aller Dinge. Die Norm konkretisiert die in der EU-Richtlinie 2016/2102 genannten Barrierefreiheit-Kriterien Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Du findest diese Norm über diesen Link als downloadbare PDF in englischer Sprache.
Die EN 301 549 ist in verschiedene thematische Abschnitte unterteilt. Abschnitt 9 der EU-Norm konzentriert sich auf das Thema “Web” und ist für uns im digitalen Kontext daher besonders relevant. Aber auch der zehnte und elfte Abschnitt sind wichtig, Denn dort geht es unter anderem um „Nicht-Web-Dokumente“, beispielweise PDF und um Autorenwerkzeuge und Nutzerpräferenzen.
Deutsche Gesetze
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG)
Fangen wir gleich mit dem vermutlich wichtigsten Gesetz in Deutschland an, unserem Grundgesetz. Vielleicht überrascht es Dich wie mich, in Artikel 3 GG heißt es: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Dieser Satz wurde 1994 in das Grundgesetz aufgenommen.
Bundesteilhabegesetz (BTHG)
Das Bundesteilhabegesetz hat zwar viel mit dem Thema Barrierefreiheit-Gesetz zu tun. Das allerdings nur indirekt im Kontext der digitalen Barrierefreiheit. Deshalb möchte ich dieses Thema hier nicht weiters vertiefen.
Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)
Das BGG wurde 2002 verabschiedet und bildet die rechtliche Grundlage für Barrierefreiheit in Deutschland. Das Gesetz orientiert sich in der Weiterentwicklung vor allem an der oben erwähnten UN-BRK und ist die deutsche Umsetzung der EU-Richtlinie 2016/2102.
Das Behindertengleichstellungsgesetz definiert nicht nur, dass öffentliche Stellen bis Juni 2021 barrierefreie IT haben sollen und was Barrierefreiheit bedeutet. Es fordert auch die Erstellung und eine leicht zu erreichende Veröffentlichung einer „Erklärung zur Barrierefreiheit“. Im Jahr 2016 wurde gemäß § 13 BGG außerdem die Bundesfachstelle Barrierefreiheit als Überwachungs- und Beratungsorgan von öffentlichen Stellen und teils auch Wirtschaftsakteuren eingerichtet.
Die Aufgaben der Bundesfachstelle sind vielfältig, deckt das BGG doch eine Vielzahl von Barrierefreiheit-Themen ab. Neben Bau und Infrastruktur auch Themen wie Gebärdensprache und Leichte Sprache. Explizit um die digitale Barrierefreiheit geht es im Abschnitt 2a „Barrierefreie Informationstechnik öffentlicher Stellen des Bundes“.
Im Paragraf 12d Verordnungsermächtigung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ermächtigt, für die digitale Barrierefreiheit wichtige Bestimmungen zu durch Rechtsverordnung und ohne Zustimmung des Bundesrats zu erlassen.
Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0)
Die BITV orientierte sich Anfang 2000 noch an den WCAG-Kriterien (Web Content Accessibility Guidelines) der WAI (Web Accessibility Initiative). Die seit 2019 gültige Version, die BITV 2.0, verweist auf die oben genannte EN 301 549.
Ziel der BITV 2.0 ist die barrierefreie Gestaltung der Informationstechnologien der öffentlichen Stellen. Das möchte die BITV 2.0 durch die Erfüllung der Anforderungen der für die EU gültigen Normen gewährleisten (Paragraf 3 (2) BITV 2.0).
Die BITV 2.0 muss seit 2019 nicht mehr angepasst werden, wenn sich in Brüssel eine harmonisierte Norm ändert. Für deutsche Behörden gilt damit immer die aktuelle EU-Norm.
Fassen wir die bisherigen Erkenntnisse zusammen
Die BITV 2.0 ist die Vorlage für öffentliche Stelle. Mit Blick auf die Barrierefreiheitsanforderungen verweist die BITV 2.0 auf die EU-Norm EN 301 549. Die Vorgaben für die Privatwirtschaft sollen sich an den Vorgaben für die öffentlichen Stellen orientieren. Also ist auch für private Wirtschaftsakteure die EN 301 549 relevant. Der Vorteil:
Künftig müssen nicht mehr einzelne Barrierefreiheit-Gesetze aktualisiert werden. Es reicht, wenn die EU-Norm als Grundlage aller nationalen Gesetze angepasst wird. Denn diese Norm wird explizit oder implizit als Vorlage benannt.
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)
Was die WAD (Web Accessibility Directive) für die öffentlichen Stellen ist, ist der EAA (European Accessibility Act) für die Privatwirtschaft. Der EAA oder eben auch „Richtlinie (EU) 882“ aus dem Jahr 2019 war die Voraussetzung für das BFSG. Im Amtsdeutsch genannt „Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen und zur Änderung anderer Gesetze“.
Das Barrierefreiheit-Gesetz der Privatwirtschaft wurde im Sommer 2021 verabschiedet und wird Ende Juni 2025 in Kraft treten. Mit dem BFSG werden zum ersten Mal auch private Wirtschaftsakteure durch ein Barrierefreiheit-Gesetz spürbar in die Pflicht genommen.
Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV)
Um das BFSG beziehungsweise dessen Anforderungen zu konkretisieren, ist im Jahr 2022 eine Rechtsverordnung verabschiedet worden. Diese trägt den Namen „Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz“, abgekürzt BFSGV. Wie auch das BFSG wird auch die dazugehörige Verordnung am 28. Juni 2025 in Kraft treten. Du kannst die Verordnung hier ansehen und als PDF herunterladen.
Schlussbemerkung
Ich hoffe, wir konnten Dir mit diesem Artikel einen guten Überblick geben und verdeutlichen, dass es nicht das eine Barrierefreiheit-Gesetz gibt. Wenn Du Fragen, Anmerkungen oder Kritik hast, melde Dich gerne bei mir. Das gilt auch für den Fall, dass Du einen Barrierefreiheit-Test für Deine Website durchführen möchtest.